Vom Sinn heimgesucht
Ich-Literatur und Antisemitismus: Renaud Camus ist zurück
PARIS, 16. Juli.
Vor zwei Jahren stürzte der Schriftsteller Renaud Camus die französische Intellektuellenwelt in eine Nervenkrise. Fremdsein? - fragte der Autor im jüngsten Band seines monomanischen Großunternehmens diarischer Selbstspiegelung, das er seit fünfzehn Jahren über zwölf Bände hinweg fortführt. Ja, er fürchte, daß Leute muslimischen Glaubens auf französischem Boden sich immer etwas fremd fühlen würden - oder vielmehr: er hoffe es. Denn im vollen und tiefen Sinn seien sie nun einmal keine Franzosen. Und beim Anhören der Rundfunkprogramme von "France Culture" notierte Renaud seine Verwunderung darüber, wie unverhältnismäßig stark die jüdischen Mitarbeiter und ihre jüdischen Themen in den Sendungen vertreten seien. Schließlich sei doch auch das Jüdische in Frankreichs Kultur minoritär und jüngeren Datums. Die Empörung der Kritiker über Camus' Äußerungen ließ etwas auf sich warten, weil offenbar keiner das dicke Buch "La Campagne de France" so genau gelesen hatte. Dann aber kam sie um so vehementer.
Antisemitisches Geschmiere, Rassismus, Revisionismus, Céline-Epigonentum für Anspruchslose, so lauteten die Vorwürfe. Manche riefen zum Verbot des Buches auf. Nein, solche Schmierereien könne man nicht einfach verbieten, erwiderte Bernard-Henri Lévy. Jacques Derrida, Claude Lanzmann, Philippe Sollers und andere nannten in einer öffentlichen Erklärung die Ansichten von Renaud Camus "kriminell". Ein Gegenaufruf, unterzeichnet von Pierre Bergé, Frédéric Mitterrand oder vom heutigen Kulturminister Jean-Jacques Aillagon, nahm bei allen Vorbehalten den Autor in Schutz. Der Publizist Antoine Spire ließ sich von der "Affäre Renaud Camus" zu einem virulenten Buch gegen die "Obsession des Ursprungs" anregen. Manche wie Alain Finkielkraut bemühten sich um differenziertere Einschätzung. Der Verlag Fayard - Camus' Stammverlag P.O.L. hatte das Manuskript abgelehnt - zog das Buch schließlich zurück und brachte es mit einigen Streichungen im Juli letzten Jahres neu heraus (F.A.Z. vom 10. Juli 2001).
Renaud Camus selbst - der mit seinem berühmten Namensvetter Albert nichts zu tun hat - schwieg. Vielmehr: er schrieb. Er schrieb Tagebuch. Das ist es, was der 1946 geborene Weltenbummler und Ästhet, der seit seinem Buch "Tricks" 1979 seine homosexuelle Befindlichkeit gern literarisch in Szene setzt, am besten kann. Unter dem schlichten Titel "Du sens" hat er jetzt - nun wieder beim Stammverlag P.O.L. - auf fünfhundertfünfzig Seiten eine egomanisch minutiöse Aufarbeitung der "Affäre Renaud Camus" vorgelegt. Hinter dem enormen Materialaufgebot der Argumente gibt das Buch zugleich auch poetologischen Einblick ins sonderbare Literaturprojekt dieses Autors. Eines hatten ihm schon damals selbst die schärfsten Kritiker zugestanden: daß der dandyhafte Frankreich-Nostalgiker persönlich kein Fremdenhasser und Antisemit sei. Sein Unterfangen radikaler diarischer Selbsterforschung sei aber darauf angelegt, den verborgensten Regungen im eigenen Ich nachzuspüren, schreibt Camus selbst in "Du sens".
Das mitunter an die Descartesche Meditationsmethode erinnernde "cogito" subjektiver Tiefenbewußtseinsprüfung impliziert ein eigenes Sinnregister. Eine Tagebuchaussage, möge sie auch gedruckt vorliegen, habe einen anderen Sinnstatus als die These eines Essays, betonte Camus stets aufs neue. Das schreibende Subjekt werde im diarischen Bereich von Sinn eher heimgesucht, als daß es ihm gezielt nachstelle, schreibt er nun. Natürlich sei er verantwortlich für das, was dabei herauskomme: jedoch nicht als Autor der Thesen, sondern als Zeuge, der seine Verantwortung mit dem Leser als Zweitzeugen teile. Stößt man schreibend bei sich etwa auf pädophile Anlagen, notiert Camus (was bei ihm selbst nicht zutreffe), sei Vertuschen kein Ausweg: Alle Anstrengung müsse dann aber dahin gehen, daß es nicht zum Akt komme. Ebensowenig scheint dem Autor die Formulierung seines Wunsches, daß Fremde in Frankreich auch fremd bleiben, als solche anstößig: Von der Formulierung führe vielmehr ein Weg zum besseren Verständnis und vielleicht weiter zur Aufhellung solcher "Dunkelstellen" im eigenen Selbst. Das Schreiben wird so zu einer komplexen Polyphonie flüchtiger Stimmen und Gegenstimmen, die nur selten an apodiktische Grenzen stoßen. Zurücknehmen möchte Camus rückblickend eigentlich nur den Ausdruck der "jüdischen Rasse".
Diese Unerschrockenheit der literarischen Innenschau ist anregend, wenn sie quer zu den ideologischen Wegmarken des Zeitgeists Themen wie Fremdbleiben, Gastfreundschaft, Nationalempfinden vor aller Nationalstaatlichkeit rehabilitiert und die Euphorie von Völkerdurchmischung und Multikulturalismus kühlt. Wo die schlichten Bezeichnungen "Fremder" und "Ausländer" fast schon beleidigend wirkten, könne auch er sich nirgends mehr fremd fühlen, schreibt Camus in "Du sens": Eine Welt, in der man überall zu Hause sei, wäre ihm aber ein Graus. Das Verlangen nach einer Literatur, die das Langzeitgedächtnis ihres geographischen Nährbodens, ihrer Landschaften und Himmel in sich trägt und die der Autor lieber bei einem Gaston Bachelard als bei den Nationalschwärmern Maurice Barrès und Charles Maurras finden will, gerät so zum endlosen Irren durchs Dickicht von Sinn und Nebensinn: Was kann man über Juden, Araber, sich selbst sagen, ohne jeweils gleich das Unerhörte mitgemeint zu haben?
Darin liegt das Problem einer ganzen Gattung intimistischer Ego- Literatur, die nach Paul Léautaud, Marcel Jouhandeau, Julien Green in Frankreich offenbar zu neuer Blüte kommt. Sie bildet das Spätecho zu jener literarischen Selbstspiegelung, die von Montaigne über Rousseau und Flaubert bis Proust und Michel Leiris zwischen Autobiographie und "Autofiktion" eine lange französische Tradition hat. Diese jüngste Variante literarischer "Autofiktion" läßt sich, wie Jean-Maurice de Montremy im Themenheft "Les écritures du moi" des "Magazine littéraire" (Mai) gerade zeigte, an Serge Doubrovskys Werk "Fils" (1977) festmachen. Das Ich wird zum Hauptmaterial einer Gattung, die fiktionale und dokumentarische Zutaten mischt. Kein Wunder, bemerkte unlängst der Kritiker Dominique Noguez, daß da - bei Houellebecq, Mathieu Lindon, Marc Weitzmann - auch die Prozesse sich häufen. Camus' Selbstrechtfertigung "Du sens" hat indessen weniger Reaktionen hervorgerufen als damals "La Campagne de France".
Während die Freunde des Schriftstellers wie Emmanuel Carrère sich nach der Lektüre bestätigt sehen im Bedauern, daß vor zwei Jahren die Literatur gegen den voreiligen Journalismus verloren habe, bemühen die Kritiker von damals sich um angemessene Selbstkritik. Eines ist aber nicht wegzudiskutieren, und der Kritiker vom "Monde" hat es erkannt. Wo die Literatur mit subjektiven Nuancen sich auf vermintes Gelände einläßt und sich dann mit immer feinerer Nuancierung zu rechtfertigen sucht, da wird im Wust der Nuancen und Gegennuancen Sinn mit Nebensinn ertränkt. Und der Autor kann sich immer damit herausreden, man habe ihn nicht richtig gelesen.
Oft habe er von einem ausschließlich in der Konditionalform verfaßten Buch geträumt, wo der Sinn im endlosen Spiel der Möglichkeiten nur noch flimmere, schreibt Camus in "Du sens" und schwärmt an einer anderen Stelle von der "semantischen Revolution" des elektronischen Hypertexts, in dem die Bedeutungen nach dem Gebot des Augenblicks endlos abwandelbar seien. Mehr als Konditionalformen und Hypertexte brauchen wir heute aber Texte, um nicht zu sagen: Werke, im klarst möglichen Indikativ - eine Gattung, die die Möglichkeiten der neuen Ego-Literatur in ihrer diarischen oder fiktionalen Variante weit übersteigt.
JOSEPH HANIMANN
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